Interview: Hurra, wir stecken in der Krise!

HANDMADE Kultur sprach mit dem deutschen Trendforscher Peter Wippermann übers Selbermachen, das Unperfekte, und warum die Zeit, in der wir leben, so spannend ist.

 

Herr Wippermann, Handarbeiten – ist das nur etwas für Frauen?

Überwiegend, ja. Aber vor allem ist Handarbeiten ein Phänomen, das ganz stark mit Krisen zusammenhängt. 2001, zur Dotcom-Krise, stand Handarbeiten auch schon hoch im Kurs. Die akutelle Krise, die ja bereits vier, fünf Jahre andauert, hat einen extremen Bezug zum Handarbeiten.

Vor allem finden wir Handgemachtes im professionellen Design wieder. Alles, was gestrickt ist, handgemacht, was authentisch ist, was also einen menschlichen Absender hat, ist in der Designwelt im Moment extrem angesehen.

Bedeutet das, wenn die Krise vorbei ist, hat auch keiner mehr Lust auf Stricken und Nähen?

Nein, das glaube ich nicht. Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen 2001 und heute. Denn das, was uns heute mehr denn je fehlt, ist die sinnliche Erfahrung in einer Welt, die immer individueller wird. Der menschliche Absender, der Künstler, der Handwerker, also eine Person, die man vielleicht sogar kennt, hat plötzlich einen eigenen Wert. Das war 2001 noch ganz anders. Damals ging es darum, sich über ein Unikat unverwechselbar zu machen, jetzt ist es der soziale Reichtum, den wir als Teil dieser Strömung anstreben. Uns geht es nicht mehr nur um materielle Werte, sondern vor allem um ideelle.

Für wen ist das ein Thema?

Handarbeiten ist ein sehr junges, modernes Thema, was eher in der Hochkultur und in den Städten zu finden ist.

Sie sagen, einer der Hauptgründe für den Hype sind die Veränderungen, die sich in unserer Arbeitswelt vollzogen haben.

Wenn ich zurückblicke in die Zeit, als ich jung war, dann war Handarbeit immer etwas, was Geld gespart hat. Damals waren Textilien extrem teuer. Heute gibt es Textilketten, die günstig hochmodische Sachen produzieren, für eine junge Zielgruppe. Um Geld zu sparen, muss heute niemand mehr ein Kleid nähen. Aber es ist eben etwas anderes, wenn man sich einen Schal strickt oder einen handgestrickten Schal kauft. Der ist nicht perfekt und das ist das Interessante: Welche Geschichte steckt dahinter, wer hat das gemacht, woher kommt das Material? Am besten, man würde noch das Schaf kennen, von dem die Wolle stammt.

Das stimmt, Handmade ist selten perfekt. Was macht die Handarbeit in den Augen vieler trotzdem so attraktiv?

Ursprünglich versuchte man, die Qualität handgemachter Produkte auch in der industriellen Produktion zu erreichen. Wenn man sich heute die industriell hergestellten Produkte anschaut, dann sind die meisten zu perfekt. Und man beginnt, diesen hyperperfekten Status wieder zurückzudrehen. Sie müssen nur an die künstlich aufgeschlissenen Jeans denken. Das Unperfekte ist jetzt das, was einen höheren Wert hat.

Ach, und ich dachte, Ziel wäre es, so zu arbeiten, dass man denkt, es wäre gekauft …

Nein, überhaupt nicht. Mittlerweile ist ja die handgeschriebene Speisekarte auf der Schiefertafel ein Fastfoodattraktor! Man beginnt, aus altem Material neue Möbel zu machen, um ein wohnliches Ambiente zu schaffen, etwas Privates.

Viele behaupten, man muss nur nach Amerika schauen, um zu wissen, was in vier, fünf Jahren hier Trend sein wird. Sehen Sie das auch so?

Nicht ganz. Es ist eher so, dass die Amerikaner kulturelle Spuren aus Europa importieren, um sie zu überhöhen und über Nischenkulturen in die Industrie zurückspülen, was dann auf den gesamten Weltmarkt ausstrahlt. Die Kultur des Handarbeitens gab es bei uns schon immer.

Zählt das Recycling da auch mit rein?

Zum Teil, es geht ja nicht darum, auf die Materialebene zurückzugehen, sondern um ein Re-Use, eine Wiederverwendung der Dinge in einem anderen Kontext. Wissen Sie, wir sind sozial, spirituell und auch emotional unterfordert. In der Handarbeit trifft sich alles wieder. Wir lernen wieder unsere eigenen Fähigkeiten zu nutzen und haben ein gutes Gefühl, wenn wir Dinge wiederverwenden.

Zurück zum Anfang: Warum haben Männer in Handarbeitsrunden immer noch Exotenstatus?

Da braucht man nur in den Baumarkt zu gehen. Da findet man die Antwort. Frauen kaufen immer Dinge, die etwas mit Wachsen zu tun haben: Pflanzen, Saatgut. Das können sie auch als Metapher fürs Handarbeiten nehmen, etwas entstehen lassen ist eher weiblich. Männer kaufen Produkte, die korrigieren, Grenzen setzen, also „Macht“ demonstrieren: beispielsweise Heckenscheren, Rasenmäheraufsätze.

Wie reagiert die Industrie auf die Wiedergeburt der Handarbeit?

Was ich interessant finde, ist die Tatsache, dass die selbst gemachten Impulse sehr schnell von der Industrie aufgegriffen worden sind. Die Pulswärmer sind von Prada imitiert worden, „Die große Masche“ …

Stellt das eine Gefahr dar für die Bewegung? Dass alles so schnell kommerzialisiert wird?

Das glaube ich nicht. Da gibt es ja ganz unterschiedliche Ansätze. Zunächst ist es der Versuch, Balance zu halten. Für diejenigen, die das neben ihrem Beruf machen, hat das heilende Kräfte. Und diejenigen, die es wirklich ernst meinen, die machen ein Geschäft daraus. Nehmen Sie Etsy oder Dawanda, das ist die Renaissance der Kleinunternehmerkultur! Da geht es um Autonomie, Selbstbestimmung –  eine andere Art von Freiheit. Das ist dann aber auch ein genauso harter Knochenjob wie jeder andere auch. Da muss man dann eigene Ideen haben, und das haben nicht so viele.

Wohin führt diese Entwicklung?

Auf lange Sicht ist das sehr interessant. Das hängt vor allem mit dem Verschwinden der Dinge im virtuellen Raum zusammen. Früher besaßen wir Schallplatten, CDs, also etwas, das man in die Hand nehmen konnte. Mittlerweile kann man auf Musik von überallher zugreifen. solange sie nur in einer Cloud gespeichert ist. Damals gab es Schränke – nur für das Abspielgerät. Billyregale wurden eigens für Taschenbücher entworfen. Jetzt beginnt IKEA, die Billyregale umzubauen, damit man ein Smartphone reinstellen kann. Wir werden erleben, dass das zukünftige Wohnzimmer keine Schränke mehr hat, es wird keinen Fernseher mehr geben, sondern nur noch Tabletcomputer. Das Leben eines Nomaden wird uns nicht mehr fremd sein. „Besitz“ wird immer unwichtiger. Schon heute gibt es Modelle wie Carsharing oder das Tauschen von Wohnungen im Urlaub. Wir werden eine ganz andere Kultur erleben als die der Industriekultur, die propagert, dass Glücklichsein nur über Dinge, die wir besitzen, möglich ist. Schon heute besitzen wir weniger. Aber dafür ist das, was wir haben, uns umso wichtiger.

Werden alle Gesellschaftsschichten mit von der Partie sein?

Nein. Es wird eine Hochkultur geben, eine geringere Mittelschicht und eine große Unterschicht. Die Unterschicht ist vom Handarbeiten relativ weit entfernt. Da bedeutet Erwerb immer noch Bequemlichkeit und Luxus. Aber es ist etwas anderes, ob Sie einfach nur genügend Geld haben und sich alles leisten können oder ob sie imstande sind, Zusammenhänge zu erkennen und Dinge zu verstehen.

Also ist Handarbeiten nur etwas für die Klugen?

Man kann es ganz gut an der Kreativszene sehen: Grafiker, Fotografen und auch Journalisten leben, als Antwort auf den sozialen Abstieg ihrer Berufe, eine bewusste Art der Askese. Früher war es ein Armutszeugnis, statt eines Autos Fahrrad zu fahren. Heute ist Fahrradfahren ein Statement, man zieht daraus spirituelle Kraft.

Nichtsdestotrotz benötigt man Geld …

Deswegen meine ich ja, die ökonomische Sichtweise auf „Handgemacht“ kann man ziemlich vergessen, die kulturelle Perspektive ist interessant. Schauen Sie sich diese Anzeige an (zeigt auf das HANDMADE Kultur Magazin): „Kuschelig, warum, gemütlich.“ Nicht das Kalkulierbare, das Kalte, das Schnelle, sonders das Menschliche, vielleicht auch das Natürliche, steht hoch im Kurs.

Vielen Dank, Herr Wippermann.

 

Prof. Peter Wippermann doziert seit 1993 über Editorial Design an der Folkwang Universität Essen. Er gilt außerdem als einer der führenden Trendforscher Deutschlands.

Spezialisiert ist Peter Wippermann auf Kommunikationsstrategien für trendgestützte Markenführung. Er versucht, „Markenchancen aufzuzeigen, die aus den Sehnsüchten einer Gesellschaft resultieren“. Ziel ist das „Emotional Design“ von Produkten und Dienstleistungen.

https://peterwippermann.com/

In eigener Sache | 1 Kommentar

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Ein Kommentar
  1. Herr Wippermann hat recht, viele „Dinge“ sind virtuell so wie die Musilk und Filme. Auch das Medium Handy hat etwas virtuelles und zunächst optisch nichts Persönliches. Deshalb die individuelle „Verkleidung“ und daran kann man wieder erkennen wer dahinter steckt. Ich trage auch gern dazu bei aus
    virtuellem, manuell etwas individuelles zu machen…..;-) zum Glück habe ich
    viele Freunde, wenn auch die meisten virtuell mit denen ich meine Leidenschaft teilen kann….!
    Das ist ein großer Gewinn und verbindet!

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