Community, Von der Wolle

Die Pullover meiner Mutter

Die Mutter der Handmade Kultur Fotografin Thordis Rüggeberg war eine leidenschaftliche Strickerin. Ihr setzt die Tochter nun ein Denkmal: mit einem Fotobuch, das die handgearbeiteten Werke würdigt.

Von Thordis Rüggeberg

Es begann mit dem Elefantenpulli. März 1981, meine Mutter stöberte im kleinen Zeitungskiosk schräg gegenüber unserer Wohnung durch die Handarbeitshefte und entdeckte ihn in der Nicole, den rosafarbenen Strickpullover mit dem grauen Elefanten darauf, dessen Rüssel von einem der Ärmel gebildet wurde. Ganz Feuer und Flamme, legte sie los, kaufte die passende Wolle und strickte ihn für mich.

Von dem Zeitpunkt an, so bilde ich mir ein, gab sie die Nadeln kaum noch aus der Hand. Viele, viele Pullover folgten, außerdem modische Must-Haves der 1980er Jahre: Legwarmers und kleine, rundgestrickte Mützen mit Rollrand, die wir Pilis nannten. Wenn ich etwas zu einer besonderen Party tragen wollte, bettelte ich: „Kannst du das bis Samstag fertig machen? Bitte!“
Später ließ ich mir das Stricken von ihr beibringen und schuf meine eigenen Kreationen, genau wie sie selten nach Anleitung – der Elefant blieb eine Ausnahme – , sondern nach Fantasie und Wunschvorstellung.

In der Schule trug ich irgendwann nahezu nur noch Selbstgestricktes; auch meine Mutter sah man fast ausschließlich in ihren Werken. Trotzdem habe ich nur ein einziges Foto von ihr in ihren so typischen Strickpullovern in meinen Alben finden können. Das mag daran liegen, dass vor der Erfindung der Smartphones, als man noch Filme kaufen, in Kameras einlegen und anschließend entwickeln lassen musste, nicht einfach mal so fotografiert wurde. Wenn, dann war es zu besonderen Gelegenheiten: runder Geburtstag, Kommunion, Hochzeit, Weihnachten. Da machten sich alle schick und erschienen in Blusen, Hemden und Kostümen, die nur zu Feierlichkeiten aus dem Schrank geholt wurden. Vermutlich besitzt kaum jemand aus dem letzten Jahrtausend Bilder von seiner Familie beim Ausräumen der Spülmaschine in den alltäglichen Lieblingsstücken.

Viele dieser selbstgestrickten Pullover existieren inzwischen nicht mehr. Von meinen eigenen hat es kein einziger in die Gegenwart geschafft, auch der Elefant nicht, ohne dass ich sagen könnte, was damit geschehen ist. Irgendwann haben mir die Sachen wohl einfach nicht mehr gepasst oder gefallen und landeten in den Altkleidersäcken. Meine Mutter wird sich ebenfalls von dem ein oder anderen Teil getrennt haben, manches war möglicherweise verschlissen, einiges wurde aufgeribbelt und zu Neuem verarbeitet. „Wiederverwertung“ wurde von meiner Mutter bereits praktiziert, als es das neudeutsche Wort Recycling dafür noch nicht gab. So erklären sich auch die Pelzkragen an ihren Pelerinen. Sie stammen aus der Generation meiner Großmütter, aus einer Zeit, in der Pelz ohne moralische Bedenken getragen wurde und schick und selbstverständlich war für die, die ihn sich leisten konnten. Die Kragen waren nun mal da, die Tiere lange tot – da konnte man ebenso gut noch etwas daraus machen.

Bevor auch die anderen Pullover meiner Mutter das Schicksal ihrer Vorgänger ereilt, möchte ich ihren Handarbeiten hiermit ein Denkmal setzen. 34 kunstvolle Oberteile, zwei Dinge sind dabei unübersehbar: die Bewunderung für die Mode von Coco Chanel und ein Faible fürs Asymmetrische. Letzteres resultierte immer mal wieder aus einem Talent zum Improvisieren: „Die rote Wolle reicht nicht mehr? Dann nehme ich eben die graue!“ Der Pullover, der von der Malerei Joan Mirós inspiriert wurde, gewann seinerzeit einen Preis der Firma Lana Grossa, von ihm sind Vorder- und Rückseite abgebildet. Auch ein umgearbeitetes, selbstgesticktes Gobelin-Kissen gibt es zu entdecken.

Die Ursprünge des Strickens sind ungeklärt. Die einen behaupten, im asiatischen Raum seien bereits vor über viertausend Jahren Socken für – oder gegen – kalte Füße gefertigt worden, andere sehen die Wurzeln deutlich später in Arabien, von wo aus es durch die Kreuzzüge im 16. Jahrhundert nach Europa gelangte. Wer immer auf die Idee kam, aus einem einzigen langen Faden mithilfe von zwei dünnen Nadeln wärmende Kleidung zu erschaffen, ihm (oder ihr) gebührt Respekt, Dankbarkeit und Bewunderung. So wie meiner Mutter für all das kreative Schaffen durch vier Jahrzehnte, Pullis, Pilis und einen Elefanten.

Zur Erinnerung an meine Mutter Inge
8. März 1937 – 4. August 2023

Hamburg, im September 2023

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